Moviebase Victor Frankenstein
Was wäre das Horrorkino ohne literarische Klassiker? Auf jeden Fall um unzählige Filme ärmer, wie das Beispiel „Frankenstein“ beweist. Seit den Anfängen des kinematografischen Schaffens vor mehr als 120 Jahren gehört Mary Shelleys Schauerroman zu einer der größten Inspirationsquellen überhaupt. Dass sich die 1818 erstmals veröffentlichte Erzählung nach wie vor enormer Beliebtheit erfreut, muss nicht verwundern, da das damals vielleicht noch unwirklich anmutende Thema – die Kreation eines künstlichen Menschen – längst in der Realität angekommen ist. Großen Einfluss hatte Shelleys Fiktion in letzter Zeit etwa auf die britische Fernsehserie „The Frankenstein Chronicles“, die die Ideen des Romans für eine historische Kriminalgeschichte nutzbar macht. Auch Paul McGuigan („Push“, „Lucky Number Slevin“) wandelt mit „Victor Frankenstein – Genie und Wahnsinn“ auf den Spuren des wirkmächtigen Buches und legt einen opulenten Fantasyfilm mit einer neuen Perspektive vor.
Erzähler und Bindeglied zum Zuschauer ist hier ein in der literarischen Vorlage nicht auftauchender Assistent des Titelhelden, der sich zu Beginn des Films als namenloser Clown in einem Zirkus verdingt. Dort wird der bucklige Mann (Daniel Radcliffe) verlacht und gequält, bis eines Tages der ehrgeizige Medizinstudent Victor Frankenstein (James McAvoy) in sein Leben tritt. Sofort erkennt dieser, dass der wissenschaftlich interessierte Prügelknabe über besondere Fähigkeiten verfügt, weshalb er ihn kurzerhand aus den Fängen des sadistischen Zirkusdirektors befreit. Da es bei ihrer Flucht zu einem Todesfall kommt, heftet sich der gottesfürchtige Inspector Turpin (Andrew Scott) an ihre Fersen. Mit Hilfe seines neuen Mitarbeiters, den er auf den Namen Igor tauft, bereitet Frankenstein eine bahnbrechende Forschungsarbeit vor. Schon lange will der Student aus den Kadavern verschiedener Tiere ein lebendiges Wesen erschaffen, was ihm dank der tatkräftigen Unterstützung seines Assistenten endlich gelingt. Die affenähnliche Kreatur zeigt bei ihrer ersten Vorführung allerdings bedrohliche Eigenschaften und lässt Igor an der Sinnhaftigkeit ihres wissenschaftlichen Tuns zweifeln.
Seinen reflexiven, postmodernen Zugang zum Ursprungsmaterial demonstriert der Film gleich zu Anfang, wenn uns der junge Mitarbeiter daran erinnert, dass wir mit der Geschichte eigentlich schon bestens vertraut sind. Sein Blickwinkel auf den altbekannten Plot liefert einen neuen Ansatz, der vielversprechend klingt, dessen dramaturgische Stoßrichtung aber auch leicht zu durchschauen ist. Die anfängliche Bewunderung für den unermüdlichen Gönner schlägt irgendwann in Skepsis um, wobei Drehbuchautor Max Landis („American Ultra“, „Chronicle – Wozu bist du fähig?“) mehrmals Situationen heraufbeschwört, in denen Igor wieder an Victor zu glauben beginnt. Rundum überzeugend sind seine Meinungsumschwünge allerdings nicht. Vielmehr bedient sich der Film schematischer Erklärungsmuster, die bloß einen Zweck verfolgen: die Handlung weiter auf Kurs zu halten.
Frankenstein wirkt in vielen Szenen wie ein hyperaktiver kleiner Junge, der einzig und allein für seine kühnen Experimente lebt. Der deutschen Titelzusatz – „Genie und Wahnsinn“ – ist sicherlich nicht originell, trifft den Nagel aber auf den Kopf. Immerhin erweist sich der Medizinstudent in McAvoys manisch-energiegeladenem Spiel als intelligenter, ironischer, zuweilen allerdings beängstigend größenwahnsinniger Wissenschaftler. Abgefedert wird sein übersteigertes Auftreten durch eine Backstory Wound, die jedoch nicht sonderlich kunstfertig in die Handlung eingewoben wird und daher keinen großen Nachhall erzeugt.
Eher oberflächlich beleuchten Regisseur McGuigan und Skriptlieferant Landis auch die Frage nach der menschlichen Hybris, die gerade vor dem Hintergrund der heute immer weiter ausgreifenden Forschungen eine enorme Brisanz besitzt. Ab und an werden im Film Bedenken geäußert. Frankenstein und Turpin streiten über die Grenzen der Wissenschaft und des Glaubens. Am Ende sind es aber vor allem Allgemeinplätze, die sich ebenso in vielen anderen Shelley-Adaptionen finden lassen. Dass das 40-Millionen-Dollar-Spektakel trotz seiner erzählerischen Beschränkungen, die sich auch in einer blutleeren Romanze offenbaren, nicht zu einem lächerlichen Fantasy-Brei im Stil von „I, Frankenstein“ verkommt, liegt an seinen beachtlichen Schauwerten und einigen virtuos inszenierten Actionsequenzen. Mit großem Aufwand lassen die Macher das London des 19. Jahrhundert auferstehen und verschreiben sich dabei einer Optik, die an Guy Ritchies Kinorevisionen der Sherlock-Holmes-Figur erinnert. Deren Vorliebe für verspielte Kampf- und Fluchtszenen teilt McGuigan ohne Zweifel.
Das legt schon ein Blick auf die packende, häufig in Zeitlupe gefilmte Auftakthatz im Zirkus nahe, bei der der Wissenschaftler und sein zukünftiger Assistent ihren Verfolgern mehrfach ein Schnippchen schlagen. Anders als im dürftig getricksten „I, Frankenstein“ erwarten den Zuschauer hier vernünftige Computereffekte, sodass man nicht ständig aus dem Geschehen herausgerissen wird. Besonders im großen Finale lautet das Motto „Klotzen statt kleckern“, was Freunde düster-tosender Actiongewitter zufrieden stimmen dürfte. Inhaltlich drängen sich gerade an dieser Stelle aber noch einmal die Grenzen von „Victor Frankenstein – Genie und Wahnsinn“ auf. Schließlich unterschlägt der Film die aus dem Roman bekannte tragische Seite der künstlich erschaffenen Kreatur und präsentiert sie stattdessen als amoklaufendes Monster.
>> von Christopher Diekhaus