Moviebase Alice im Wunderland
Es ist einer der Klassiker auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur: „Alice im Wunderland“ des Briten Lewis Carroll hat auch nach fast eineinhalb Jahrhunderten nichts von seiner ursprünglichen Faszination eingebüßt. Dass sich ein Kino-Zauberer wie Tim Burton an eine Neuinterpretation wagt, scheint da nur konsequent.
Und Burton kommt nicht alleine. Bereits zum siebten Mal arbeitet Hollywoods kreativer Rebell mit Superstar Johnny Depp zusammen. Der schlüpft in die Rolle des verrückten Hutmachers. Ein Part, der Depp wie auf den Leib geschrieben ist und der in Burtons „Alice“-Interpretation deutlich mehr Raum einnimmt. Ein weiterer fundamentaler Unterschied liegt darüber hinaus in der Konstruktion der Filmhandlung als Quasi-Fortsetzung des Originals. Denn die Alice bei Burton ist kein kleines Mädchen mehr. Vielmehr haben wir es mit einer jungen Frau zu tun, deren Vermählung mit einem adeligen Langweiler kurz bevorsteht.
Auf einer zu ihren Ehren ausgerichteten Gartenparty soll sie von Hamish, dem Sohn von Lord und Lady Ascot, einen Heiratsantrag erhalten. So ist es jedenfalls geplant. Die zahlreich erschienenen Gäste feiern dem Höhepunkt bereits entgegen, als Alice (Mia Wasikowska) im letzten Moment Reißaus nimmt und stattdessen einem weißen, mit einer Weste bekleideten Kaninchen folgt. Der kleine Hoppler, von dem man zunächst nicht genau weiß, ob er lediglich Alices Fantasie entspringt, lockt die Heiratsunwillige in seinen Bau. Nach einem scheinbar nicht enden wollenden Sturz ins dunkle Nichts landet sie schließlich in einem mit schwarzen und weißen Kacheln gefliesten Raum. Auf einem Tisch lockt ein Schlüssel, eine Ampulle mit der Aufschrift „Trink mich!“ und ein Törtchen mit den Worten „Iss mich!“.
Alice ist angekommen im Wunderland, das sie als kleines Mädchen in ihren Träumen bereits besuchte und das bei Burton seltsamerweise „Unterland“ heißt. Nicht nur an dieser Stelle nehmen sich der Film und sein Regisseur einige Freiheiten heraus. Wie nicht anders zu erwarten, erscheint das Wunderland weitaus bedrohlicher als beispielsweise noch in der zuckersüßen Disney-Variante aus den fünfziger Jahren. Als Verursacher für die von Alice vorgefundene Verwüstung ist schnell die Rote Königin (Helena Bonham Carter) ausgemacht. Die hat ihrer verhassten Schwester, der gutherzigen Weißen Königin (Anne Hathaway), mal eben die Krone abgenommen, um so ihre Macht zu begründen und zu festigen.
Neben all dem morbiden Chic, den Burton in die vordergründig doch recht farbenfrohen Tableaus immer wieder einschmuggelte - im königlichen Wassergraben schwimmen die Hinterlassenschaften der (blut-)roten Terrorherrschaft -, und den tonalen Verschiebungen bleibt aber noch genug Raum für ein Wiedersehen mit alten Bekannten. Die Grinsekatze, die Zwillinge Diedeldum und Diedeldei, der Märzhase, die Wasserpfeife rauchende Raupe Absolem und natürlich der verrückte Hutmacher dürfen nicht fehlen, wenn Alice in das imaginierte Land ihrer Kindheit zurückkehrt. Für andere Charaktere wie das Ei Humpty Dumpty und das Walross war hingegen kein Platz mehr.
Es ist schon erstaunlich. Johnny Depps Star-Persona kann selbst zentimeterdicke Schminke und ein grelles, abgrundtief hässliches Make-up nichts anhaben. Als „Mad Hatter“ grimassiert und zappelt er sich wahrhaftig wie ein Wahnsinniger durch die meist computergenerierten Sets. Depps riesiges ADS-Baby wird nur noch von der Darstellung Helena Bonham Carters getoppt. Die Rote Königin, so wie Carter sie interpretiert, ähnelt einer aufgeplusterten Cholerikerin im Zwergenformat. Es ist die größte Karikatur in einem nahezu ausschließlich von Karikaturen besetzten Ensemble. Newcomerin Mia Wasikowska hat im Vergleich dazu einen recht undankbaren Job. Auch wenn ihre Alice anders als in früheren Verfilmungen keine passive Beobachterin bleibt und sie die Ereignisse aus einer erwachsenen Perspektive wahrnimmt, ist ihre Figur nur bedingt von Interesse.
Über Burtons Neuauflage - oder Fortsetzung, wie man will - liegt zudem eine nervöse Unruhe und Hast. Nach Alices Ankunft im Wunderland findet der Film kaum einen Moment des Innehaltens. Ein Schauplatz jagt den nächsten, dazu Dialoge und Monologe ohne Punkt und Komma, sprechende Tiere und groteskes Grimassieren. Sogar für eine Zauberwelt, in der Spielkarten wie selbstverständlich als königliche Armee aufmarschieren, wird es irgendwann zu viel. Der Witz wirkt mitunter erzwungen, einzelne Szenen wie die ewige Geburtstagsfeier des Hutmachers unangenehm überdreht. Dazu flüchtet sich der Film in ein aspetisches Finale, das so auch in „Narnia“ und „Herr der Ringe“ hineingepasst hätte.
Eine leise Enttäuschung lässt sich folglich nicht wegdiskutieren. Bei aller handwerklichen Brillanz, die man von Burton gewohnt ist, fehlt bisweilen das, was die Vorlage bis heute so beliebt bei Jung und Alt macht: Ein pochendes Herz für das Fantastische. Dass diese „Alice im Wunderland“ (überflüssigerweise) in 3D erstrahlt, kann hierüber nicht hinwegtrösten. Technik allein erzeugt noch keine Wärme.
>> verfasst von Marcus Wessel