Moviebase Hard Candy
Eternal Sunshine of the Spotless Mind. Sexy Beast. Being John Malkovich. Birth. Adaptation. Human Nature. One Hour Photo. Human Nature. Was haben diese Filme gemeinsam? Sie alle zeichnen sich zunächst einmal durch einen unbedingten Willen zum ästhetischen Experiment aus, durch ein Bedürnis zur Ausweitung der Grenzen dessen, was im Film heute möglich ist. Durch innovative und ausgefeilte Konzepte und Geschichten. Durch einen an der Postmoderne geschulten, stark reflektierenden Umgang mit Genrekonventionen. Durch außergewöhnliche, gegen den Strich gebürstete Schauspielerleistungen. Und, vor allem, durch den Hintergrund ihrer Regisseure. Spike Jonze, Michel Gondry, Mark Romanek oder Jonathan Glazer – sie alle gehören zur jüngsten Welle von Filmemachern, die ihr Handwerk und ihr Formbewusstsein nicht in den großen Hollywoodstudios, sondern in enger Zusammenarbeit mit MTV und VH1 gelernt haben. Die innovativen Videos von Björk, Radiohead, REM, Red Hot Chili Peppers, Madonna, Foo Fighters, White Stripes, Fatboy Slim, Weezer, Beastie Boys, Massive Attack, Air oder Kylie Minogue sprechen Bände und zeigen eindrucksvoll, zu welch visionären Leistungen Regisseure im Musikvideobereich heutzutage fähig sind. Und wer die einleitend genannten Filme kennt, der weiß auch, was passieren kann, wenn inszenatorisches Geschick und unkonventioneller Blick mit provokanten, nicht nur auf Klischees setzenden Stoffen aufeinander treffen..
Warum nun diese Einleitung? Ganz einfach: Mit David Slade ist soeben einem weiteren Musikvideoregisseur (der z.B. für die Stone Temple Pilots gedreht hat) mit einem ungemein kontroversen und von der Filmgemeinde heiß diskutierten, auf diversen Festivals wie Sitges aber mit Preisen überhäuften Film namens Hard Candy der Sprung vom Musikfernsehen auf die große Leinwand gelungen. Hard Candy ist ein guter Film, ein sehr guter, was sage ich, ein ganz und gar außergewöhnlicher Film. Wahrscheinlich der beste, mit Sicherheit aber der intensivste Film, den ich seit langem gesehen habe. Und einer, der spielerisch sämtliche Ansprüche an hoch gelobte ehemalige Videofilmer (über)erfüllt, die ich im einleitenden Absatz aufzulisten versucht habe.
Getragen von einer fantastisch beunruhigenden (oder beunruhigend fantastischen?) Geschichte – 32jähriger Mann lernt über das Internet ein 14jähriges Mädchen kennen (der titelgebende Begriff steht im Internetslang allgemein für minderjährige Mädchen), sie treffen sich, er lädt sie – mit nicht eindeutig bekundeter Absicht – zu sich nach Hause ein, dort entwickelt sich ein zunehmend an Fahrt gewinnender, gewaltsam eskalierender Psychokrieg zwischen den beiden, in dessen Verlauf die zu Beginn scheinbar so klar gezogenen Grenzen zwischen Täter und Opfer zusehends verschwimmen und der nach und nach auf eine verstörende Schlusspointe hinausläuft – ist dies ein moralisch höchst ambivalentes Kammerspiel, das sich mit so dunklen Themen wie Kindesmissbrauch, Lolitasyndrom, Kastration, (Selbst)Mord, (Selbst)Justiz und diversen (Un)Formen physischer und psychischer Gewalt beschäftigt, dessen tiefschwarz-beißender Wortwitz einem buchstäblich das Lachen im Hals stecken bleiben lässt und das die einzig richtige Antwort auf die Frage findet, wie dargestellt werden kann, was nicht dargestellt werden darf: man zeigt es nicht, sondern deutet an und überlässt den tatsächlichen Horror der Vorstellungskraft des Zuschauers, der von der (mehr als nur) latent bedrohlichen Unbeschwertheit und Leichtigkeit des Vorspiels (oder ersten Aktes) an immer tiefer in diese konsequente und erbarmungslose Abwärtsspirale in die dunkelsten menschlichen Abgründe hinabgesogen wird.
Es fließt kein Blut, die Szenen tatsächlicher on-camera Gewalt sind eigentümlich beiläufig und roh inszeniert und doch, man ahnt es oder, ja, man weiß es, ist das, was off-camera passiert und sich oft nur in den Augen der Figuren spiegelt, grauenhafter als jeder Splatterfilm und dabei von einer derart schneidenden Intensität, dass während mancher Szene Zuschauer – zumindest in der (ausverkauften!) Vorstellung, die ich besucht habe – fluchtartig den Saal verlassen mussten. Eine durchaus verständliche Abwehrreaktion, die vergleichsweise auch das Werk von Michael Haneke (siehe z.B. in diesem Zusammenhang Le Pianiste oder Funny Games) oder ein Film wie Takashi Miikes Audition – ebenfalls eine buchstäblich aus den Gleisen springende Reflexion über Macht, Unterwerfung und porös gewordene weiblich/männliche Opfer/Täter Dichotomien – in einem durchschnittlichen Kinopublikum hervorzurufen vermag.
Hard Candy erreicht diese Wirkung dank einer beeindruckend stilsicheren und nuancierten Inszenierung. Dank eines intelligenten, moralische Dilemma und rechtliche Tabuzonen offen thematisierenden (vgl. hierzu auch The Woodsman mit Kevin Bacon), von einer Vielzahl subtiler Quer-, Rück- oder Vorverweise profitierenden Drehbuchs von Brian Nelson. Dank eines dicht gewobenen, atmosphärisch intensiven und bedrohlichen Klangteppichs, der nur in seltenen Fällen auf tatsächlich ‚komponierte’ Musik zurückgreift (Molly Nyman, die Tochter des Komponisten Michael Nyman, ist gemeinsam mit Harry Escott dafür verantwortlich zu machen)[1]. Vor allem aber auch dank geradezu ungeheuerlicher Schauspielerleistungen von Ellen Page (die kürzlich auch als Kitty Pride in X-Men 3: The Last Stand zu sehen war) und Patrick Wilson, einem renommierten Theaterschauspieler, der unter anderem in der Verfilmung von Tony Kushners Drama Angels in America neben Al Pacino und Meryl Streep reüssieren konnte und laut Regisseur Slade sehr vorsichtig auf seine Wolfs-im-Schafspelz-Rolle zugeführt werden musste. Aus gutem Grund, wie jeder verstehen wird, der nach diesem Film fassungslos und nach Atem ringend das Kino verlassen wird.
Apropos Wolf im Schafspelz. Es lohnt sich durchaus, auch genauer auf einen geschickt eingeflochtenen Subtext zu achten, der den alten, zwischen den Zeilen von sexueller Ausbeutung geprägten Märchenstoff um Rotkäppchen und den großen bösen Wolf in eine amerikanische Gegenwart umdeutet, die von einer erotischen Faszination für (ewige?) Jugendlichkeit geprägt ist und zwischen der gefährlichen Freiheit und dem Geheimnis der weiten Welt des Internet einerseits und dem unüberschaubar gewordenen, vollständig anonymisierenden Großstadtdschungel andererseits oszilliert. Auf diese Motivkette deutet nicht zuletzt auch das Filmplakat hin, welches das Mädchen vor grauweißem Hintergrund in roter Kapuzenjacke inmitten einer übergroßen Bärenfalle zeigt, wobei allerdings nicht eindeutig klargestellt ist, ob nun das Mädchen selbst in der Falle steckt oder vielmehr nur als Köder für den Wolf fungiert.
Diese Ambivalenz setzt sich im Inhaltlich-Ästhetischen fort, wenn in zahlreichen, den Hintergrund bis ins Abstrakte verfremdenden Detail- und Großaufnahmen von Page und Wilson Zuschauererwartungen wieder und wieder untergraben werden und bis zum Ende hin in der Schwebe gehalten wird, wer nun tatsächlich der Wolf ist und wer das Opfer. Gleich zu Beginn fällt ein Satz, der für den weiteren Verlauf der Handlung wichtig sein wird: Faces lie. Gesichter lügen. Wilsons Charakter Jeff, der diesen verhängnis-verheißungsvollen Satz ausspricht, sollte eigentlich wissen, wovon er spricht, immerhin ist er Modefotograf. Des Wertes trügerischer Oberflächen ist sich auch Slade wohl bewusst, indem er seinen (mutmaßlichen?) Päderasten von Anfang an in einer perfiden Manipulation des Publikums als attraktiven, erfolgreichen Sympathieträger inszeniert und nur langsam Schicht für Schicht den schönen Schein abträgt und die Abgründe darunter freilegt. Hayley hingegen wird zu Beginn als halb manipulativ-berechnende, halb naiv in ihr Unglück rennende Lolita gezeichnet, als quasi hilfloses Opfer des großen bösen Wolfes, das sich (scheinbar) aus dem Nichts heraus buchstäblich in einen Racheengel verwandelt und erst im späteren Verlauf der Handlung seine tatsächlichen Beweggründe offenbart.
Slade genießt es sichtlich, in langen, durchkomponierten Einstellungen, sanft gleitenden Kamerafahrten und elegant-unaufdringlichem Schnitt (oft durch einfache Abblenden, aber auch durch „versteckte“ Schnitte in der Manier von Hitchcocks Rope) ganz nah an die (stark transpirierenden) Gesichter von Wilson und Page heranzurücken und unter den Oberflächen Abgründe zu entdecken, Lügen, Halbwahrheiten und grauenerregende Abgründe freizulegen, nur um dieses Innenleben unvermittelt zu konterkarieren und durch drastische, auf Brüche in der Kontinuität Wert legende Montage und hektische und stark subjektive Handkameraführung nach Außen zu kehren. In diesen rasenden Eskalationsmomenten reißt sich die Kamera des in Cinemascope gedrehten, farbsymbolisch treffsicheren Films (immer wieder die Farbe rot…) von den Gesichtern los und schwankt nervös zwischen Nah- und Halbnaheinstellungen, wodurch auch der über weite Strecken flache, hellgraue und schemenhaft-verschwommene Hintergrund plötzlich an Kontur, Tiefe und Farbe gewinnt und durch sparsam, aber gezielt eingesetzte Kunstgriffe wie Zeitlupen oder Zeitraffer greifbar wird. Auch die tatsächlichen Größenverhältnisse der beiden Charaktere werden erst in diesen Einstellungen deutlich, plötzlich erscheint Jeff riesenhaft neben einer kleinen, beinahe durchsichtig erscheinenden, absolut verletzlich wirkenden Hayley. Aber, wie mittlerweile klar sein sollte, man kann der äußeren Erscheinung nicht trauen in dieser bewussten Publikumsverunsicherung.
Es sind nicht zuletzt diese immer wieder aufflackernden extremen Kontraste, die den Film zu einem emotional so aufwühlenden, ja zerstörerischen Erlebnis machen und völlig entrüstete Reaktionen hervorrufen wie jene eines Kinobesuchers zwei Reihen schräg vor mir, der sich lautstark über den seiner Meinung nach verwerflichen Zynismus und Nihilismus des Films äußerte und sich darüber hinaus über Misanthropie, Verharmlosung eines gesellschaftlichen Tabuthemas, Gewaltfetischismus und allgemeine Manipulation des Publikums beschwerte. Meiner Meinung nach trifft bis auf letztere keine einzige dieser kategorischen Aussagen auf Hard Candy zu, aber es ist trotzdem eine Freude miterleben zu dürfen, dass Filme auch tatsächlich noch Kontroversen auslösen und starke Reaktionen hervorrufen können, völlig gleichgültig, ob diese nun positiver oder negativer Natur sind. Erwartet also nicht, dass jeder um euch herum diesen Film grandios finden wird. Manche werden ihn hassen. Ich revidiere, die meisten werden ihn hassen, manche lieben. Und das soll auch so sein.
Inszenatorisch von konzentrierter Geradlinigkeit geprägt, ist Hard Candy nichtsdestotrotz ein moralisch hochkomplexer, vielschichtig interpretierbarer und verstörender Psychoschocker, der herkömmliche Identifikationsmuster unterläuft, indem die Grenzen zwischen Täter und Opfer ständig zu verschwimmen drohen. Slades Langfilmdebüt ist ein weiterer Beleg für das Talent und Fingerspitzengefühl der modernen Musikvideomacher und lebt vor allem von inspirierter Regie, einem (eventuell in Abschnitten allzu) ausgefeilten Drehbuch (mit allerdings fantastisch-fatalistischer Schlusspointe) und großen, außergewöhnlich intensiven Schauspielerleistungen (sowohl von Page als auch von Wilson wird man noch viel hören) und lässt einem weit über den Nachspann hinaus wahrlich die Haare zu Berge stehen. Dies ist natürlich sowohl Drohung, als auch Versprechen, sowohl Empfehlung als auch Warnung:. Hard Candy ist definitiv nichts für Zartbesaitete, aber Fans hartgesottener und kontroverser mind benders (wie z.B. dem bereits angesprochenen Audition) sollten sich diesen zukünftigen (Genre)Klassiker nicht entgehen lassen.
[1] Geschickt und selektiv in den Handlungsverlauf eingebaute Songs (wie LFOs als bewusste Zäsur zu verstehende, aggressiv-treibende Breakbeatnummer Freak mit der bezeichnenden Textzeile „this is going to make you freak“ oder Blonde Redheads melancholischer Song Elephant Woman, der den Film abschließt), rahmen außerdem nicht nur auf der Tonebene die Handlung ein, tragen sie weiter und fassen sie eindringlich zusammen, sondern sind in ihren kühlen elektronischen Oberflächensounds auch eine adäquate Spiegelung der kühlen und im besten Sinne flachen Ästhetik der mise-en-scene. Darüber hinaus kann die Vermutung angestellt werden, dass sich Slade – gerade auch als ehemaliger Musikvideoregisseur – bei einer derart selektiven Musikauswahl wohl des lasziv-bedrohlichen, teils gar ins märchenhaft-surreale übersteigerten Lolitaimages von Bands wie Blonde Redhead oder den ebenfalls ausgiebig zitierten britischen Disco-Trip Hoppern Goldfrapp bewusst gewesen sein muss, was dem Film eine weitere, weit über die unmittelbare Leinwanderfahrung hinausreichende Bedeutungs- und Analysedimension verleiht, die in Richtung einer allgemeinen Reflexion der in der (Pop)kultur vorherrschenden gefährlichen Faszination mit dem Tabuthema der kindlich-jugendlichen Erotik verweist (siehe zum Beispiel in diesem Zusammenhang die Werbekampagnen von Calvin Klein). Dies sei aber nur am Rande erwähnt.