Moviebase Mulholland Drive - Straße der Finsternis
Hinsetzen, den Kalender nach eventuellen Terminen checken und das Equipment auf eurem Schreibtisch um ein Glas Wasser, vielleicht auch etwas zu Knabbern erweitern. Diese Review stellt etwas Besonderes dar, da ich über die Bedeutung dieses Filmes und meine Hingabe für David Lynch, eine etwas ausführlichere und persönlichere Besprechung abliefere, als es sie bisher zu lesen gab.
So um was handelt es sich nun hier, diesem Film, der selbst den etabliertesten Filmkritikern die Kapitulation aufzwingt. Ist es eine willkürliche Zusammensetzung episodenartiger Serienfolgen, die in keiner konsequenten Relation zu einander stehen? Sieht man hier ein unverständliches Werk, dessen Genialität nur der Regisseur selbst mächtig ist? Nein! So mag es vielleicht auf den intoleranten Zuschauer wirken, doch sieht man sich „Mulholland Drive“ ohne Vorbehalte an, lässt ihn auf sich wirken und bestenfalls zum Nachforschen bewegen; dann offenbart sich hier ein auf Zelluloid gebanntes Meisterwerk der modernen Filmkunst, ein Panoptikum von Bildern beziehungsweiße Eindrücken und eine fesselnde psychologische Auseinandersetzung mit der zerrüttelten Seele eines Menschen.
Dieser Mensch ist die junge Betty Elms, die sich aufgrund ihrer Leidenschaft, dem Schauspiel, in Hollywood befindet. Alles scheint zu funktionieren, doch das schöne Nachwuchstalent wird aus ihrer perfekten Idylle gerissen als eine unbekannte Frau bei ihr Unterschlupf sucht. Die durch einen Autounfall verstörte Frau hat ihr Gedächtnis verloren und bringt mit ihrer bemitleidenswerten Haltung Betty dazu, ihr auf der Suche nach ihrer Identität zu helfen. Doch diese Suche stellt sich als eine mysteriöse Odyssee in den tiefen dunklen Schlund der Traumstadt und seiner Menschen heraus….
Er ist studierter Künstler, der seine ersten Fußstapfen in der Malerei setzte und das sogar äußerst bemerkenswert und erfolgreich. Nun ist es so, dass sich Jeder, der sich auch nur halbwegs mit Medium Film beschäftigt und dafür begeistert, irgendwann und wenigstens einmal über eines der Werke von David Lynch stolpert. Sei es sein verstörendes Regiedebüt „Eraserhead“ (1977), der rührende „Elephantman“ (1980) oder „Blue Velvet“ (1986) – wohl der Schlüsselfilm in seiner bewundernswerten Karriere. Zuletzt ließ es Lynch durch den dunklen „Lost Highway“ (1997) zu, dass sich wieder sämtliche Kunst- und vor allem Filminteressierte auf ihn konzentrierten. Um nun Fans und Kritiker erneut in Staunen zu versetzen, wurde sein bis dato neuster Film bei den Filmfestspielen in Cannes 2001 aufgeführt. „Mulholland Drive“ – unscheinbar und mystisch wirkt der Titel, ebenso wirkte der Film auf das Publikum. Mit dem Regiepreis gekürt, begannen die Aufführungen in den Kinos – Menschen verließen kopfschüttelnd die Säle und die Nachricht vom konfusesten Film dieses Jahres verbreitete sich wie ein Lauffeuer.
Ähnlich der vorhergegangen „Twin Peaks“- Reihe, mit dem genialen Kyle MacLachlan in der Hauptrolle, war auch „Mulholland Drive“ ursprünglich als mehrteilige Fernsehserie geplant. Doch an dieser Stelle möchte ich Herrn Lynch ausdrücklich danken, dass die zu diesem Zeitpunkt bereits begonnene Serie letzten Endes doch zu einem Film umgestaltet wurde. Angetrieben durch willige Sponsoren wurde die Idee eines Films realisiert, da der französische Produzent Alain Sarde das momentane Budget auf knapp die doppelte Summe erhöhte, somit waren weitere Drehs, erneute Castings und unzähliges Überarbeiten der Story und ihrer Zusammensetzung erforderlich. Dieser Marathon verlangte enorme Ausdauer und ein Höchstmaß an Herzblut seitens der Darsteller ab.
Dieser Film verdient besondere Beachtung – „Mulholland Drive“ stellt für mich einen fixen Punkt in meiner Leidenschaft als Filmbegeisterter junger Kerl dar. Mit diesem Werk war für mich klar, dass ich in mein zukünftiges Leben dem Film widmen werde. Die Genialität Lynchs bewundernd erlangte ich ein komplett neues Denken dem Film, Regiewesen und der Kunst gegenüber. Diese knappen 2,5 Stunden in denen ich diesen Film das erste Mal sah, stellen für mich sozusagen einen inneren Beschluss dar, welcher mich als Mensch, mit meinen Ideen und Interessen sehr stark beeinflusste. Deshalb sollte sich nun die Frage stellen, warum kam es dazu und wie gelang es einem Film so etwas zu bewirken.
Mehr als ein Dutzend Charaktere spielen tragende Rollen in „Mulholland Drive“, jede verkörpert eine andere Einstellung, Gruppe oder Typ – jegliche Werte und Moralvorstellungen finden in diesem Film ihren Ausdruck. Die Aufmerksamkeit und Konzentration sollten sich auf absolutem Maximum befinden, da man schnell den Überblick bzw. den Durchblick verlieren kann. Zu bewundern ist dies jedoch, dass alle Personen im Film miteinander in Verbindung stehen, alle haben Auswirkungen aufeinander und niemand ist überflüssig.
Angefangen auf der narrativen Ebene des Films, lässt sich hier sehr bald schon eine ganz spezielle Aura erkennen – sie knüpft sich einfach an den Zuschauer und fesselt ihn für die kommenden 146 Minuten an den heimischen Sessel. Noch simpel beginnend, erlangt er mit jeder neuen Szene, jeder neuer Person etc. ungeahnte Tiefe. Diese Tiefe wächst zunehmend an und weißt sehr kompakte und doch komplizierte Dichte auf.
Betty (verkörpert durch die bezaubernde Naomi Watts), die schöne Schauspielerin, ist ein totaler Sympathieträger und dient wunderbar dafür, den Zuschauer emotional mit einzubinden. Wie ein unsichtbarer Dritter, meint man der mysteriösen Spurensuche Bettys und der namenlosen Unbekannten, die sich als Ersatznamen Rita aneignet (mit großer Professionalität gespielt von Laura Harring) zufolgen; stets mit Liebe zum Detail und einer einzigartigen Erzählkunst von Seiten Lynchs, fällt es nicht schwer sich dem Film voll und ganz hinzugeben und dem spannenden Geschehen beizuwohnen.
Die Geschichte bietet einfach alle Themen und Aspekte die einen Zuschauer ansprechen, gefallen und interessieren können. Göttlicher Slapstick durch den Regisseur Adam Kesher (sehr stark: Justin Theroux) trifft auf Schockmomente die selbst geübten Leuten aufstoßen werden. Weiterhin werden Trivialdialoge a la Tarantino präsentiert, die dann auf tiefmystische und komplizierte Aussagen verschiedenster Charaktere treffen. Ein Bespiel für diese einzigartigen, mit einer gruseligen Aura behafteten Zeilen wären die des Cowboys, der unseren Hauptpersonen öfters zu Augen kommen wird. Sämtliche Vertreter der facettenreichen Genrepalette werden hier in avantgardistischer Filmkunst vereint und ufern nicht in einem experimentellen Schwachsinn aus, sondern in einem Film der sämtliche Stilmittel in sich vereint und somit zu einer cineastischen Attraktivität wird.
…und wieder einmal zeigt Angelo Badalamenti, was für ein musikalischer Virtuose er ist. Wie auch schon bei Lynchs „Blue Velvet“ oder „Lost Highway“ schwingt Badalamenti den Taktstock und kreiert Meisterhaftes. Tiefe Melodien, die sich schwer und langsam entfalten, legen sich wie ein dichter Nebel auf die Straßen Hollywoods und verstärken die eh schon bedrückende Atmosphäre des Films. Der Musikbegeisterte Lynch brachte sich selber bei den Kompositionen mit ein und beweist sein riesiges Talent. Selten hört man soll verstörende und zugleich tief emotionale Melodien in einem Film, wie diesem. Deshalb bedeutet mir „Mulholland Drive“ auch dementsprechend viel, da er der erste Film war, bei dem ich nach jahrelangen Filmerfahrungen, ausgenommen diverser Filme im Kindesalter, meine Tränendrüsen zum Einsatz brachte. Dies wurde durch die „Silencio-Szene“ im Theater hervorgerufen, als Rebekah del Rio lauthals ihr „Llorando“ besingt. Der Vollständigkeit halber möchte ich ergänzen, dass ich nicht geheult hab wie ein Schlosshund sondern mir die ein oder andere Träne die Wangen runtergelaufen ist, dies begleitet durch eine Ganzkörper Gänsehaut. Es war für mich eine wahnsinnig intensive Begegnung mit dem Film, der Kunst des Filmes, die ich bis heute über Alles bewundere.
Zurück zur Story, der mehr als moderne, fast lästige Begriff, des Plottwists wäre bei „Mulholland Drive“ nicht angebracht, doch es gibt eine markante Stelle die den Film maßgeblich verändert und in eine neue Richtung führt. Diese Stelle symbolisiert den Zeitpunkt des Film, an dem er immer mehr seiner Komplexität zu erkennen gibt. Der Zuschauer weiß nicht wie ihm geschieht, er zweifelt meist an sich und seiner sonst immer gut eingeschätzten Aufmerksamkeit. Zurecht; Namen von Personen wechseln, sind vertauscht oder Rollen werden ausgewechselt. Die amüsant, spannende Spurensuche nach der Identität der unbekannten Rita wechselt in ein zunehmend verstörenden und immer dunkler werdenden Horror. Komik verschwindet und wird durch Grusel und Surrealität ersetzt. Dunkler Symbolismus und künstlerische Elemente des Bösen bzw. Bedrohlichen bilden tief klaffende Schatten im grell hellen Hollywood. Seltsame Aufeinandertreffen und Themen wie Tod, Hass etc. greifen in die ehemals heile Welt ein.
Das ein oder andere „Hä?“ oder „Was ist denn bitte hier los?“ wurde nun auch bei mir frei und es blieb mir nichts anderes übrig dem höchstanspruchsvollen Geschehen weiterhin zufolgen. Die Story wird immer abstruser, immer mysteriöser und spätestens jetzt könnte man den Film nicht mehr abschalten. Kopfschüttelnd, womöglich am Rande der Verzweiflung stehend, wird nun jede einzelne Hirnwindung des Zuschauers beansprucht. Jede Suche nach Logik, der Lösung des Ganzen oder der Entschlüsselung dieses gigantischen Rätsels, trug keinen oder nur mäßigen Erfolg nach sich. Exakt mit dieser Erkenntnis wird man auch aus dem Film entlassen; massive Verwirrung über das grad Gesehene kommt auf, Logik scheint nicht vorhanden zu sein, zumindest denkt man dies, da die Logik von „Mulholland Drive“ – wenn es denn eine vollkommene Logik gibt – sich auf viel höher gestellten Ebenen ausdehnt. Gewiss verleitet dies zu wiederholten Auseinandersetzungen mit diesem Film, man wird ihn immer wieder ansehen, immer wieder neue Geheimnisse entdecken, neue Rätsel lösen, Zusammenhänge erkennen. Doch genauso wie man den Film mit jedem Mal besser zu verstehen glaubt, wird man herbe enttäuscht sein wenn einmal mehr der Abspann beginnt und man verdutzt auf die Bildfläche sieht und doch wieder vor der unbeschreiblichen Genialität David Lynchs kapitulieren muss.
Der Film zeigt eine junge Frau, deren Wunschtraum an den harten Vorstellungen einer kompromisslosen Gesellschaft zerschmettert und ihr somit auch den letzten Lebensmut nimmt. Von Eifersucht auf ihre erfolgreiche Freundin getrieben entschließt sie sich dazu ihre Freundin durch einen Auftragsmörder töten zu lassen. Von starken Schuldgefühlen, Trauer und Verzweiflung geplagt, flüchtet sie in eine fiktive Traumwelt, in der sie das Leben führt, welches ihr verwehrt war zu leben. Dieses Annehmen ihrer Wunschrolle, erklärt auch den plötzlich auftretenden Wechsel der Namen der Protagonistinnen – um an dieser Stelle eine kleine Erklärung mit einfließen zu lassen.
„Mulholland Drive“ ist ein filmisches, hochkomplexes Verwirrspiel, welches selbst in den kleinsten Nuancen stimmig umgesetzt ist und ausnahmslos Jedem seine Grenzen aufzeigt. Der Film ist ein rar gewordenes Erlebnis, unter anderem durch die visuell und musikalisch atemberaubende Inszenierung. Kritik an der heilen, fassadenartigen Scheinwelt Hollywoods, kombiniert mit der künstlerischen Bearbeitung von schwer psychologischen Problemen (Traumwelt etc.) ergibt ein unvergleichliches Filmerlebnis. Meiner Meinung nach ist es der beste Film von David Lynch, der sich hier selbst übertroffen hat. Wenn „Blue Velvet“ ein Schnitzel wäre, dann handelt es sich bei „Mulholland Drive“ um das Filet Mignon.
>> geschrieben von Benjamin Johann