Doctor Strange in the Multiverse of Madness – Doch kein Horrorfilm? Unsere Spoiler-Filmkritik

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Kritik enthält Spoiler! Neun Jahre nach Die fantastische Welt von Oz, seiner letzten Leinwandarbeit als Regisseur, ist Sam Raimi zurück im Kino. Und das mit einer Superheldensause, die im Vorfeld immer wieder als erster Horrorfilm im Marvel Cinematic Universe (MCU) beschrieben wurde. Schon diese Einordnung und die Besetzung der kreativ wichtigsten Position machten neugierig: Würde der Disney-Konzern die Zügel etwas lockern? In ungeahnte Abgründe abtauchen? Vielleicht sogar, was bisher ganz und gar nicht vorgesehen war, Grenzen überschreiten? Auf all diese Fragen muss man mit einem «Nein» antworten. Dennoch fühlt sich Doctor Strange in the Multiverse of Madness, der 28. Teil des MCU, durchaus erfrischend an. Wirklich verstörend ist hier nichts. Düsterer und optisch einfallsreicher als in vielen anderen Beiträgen der fortlaufenden Superheldensaga geht es aber sehr wohl zur Sache. Sam Raimis Liebe zum Horrorkino lässt sich jedenfalls nicht verleugnen.

Das im Titel angekündigte Multiversum, die Gesamtheit vieler parallel existierender Welten, spielte bereits in Spider-Man: No Way Home, dem 27. Marvel-Abenteuer, eine ebenso prominente wie gefährliche Rolle. Das Gleichgewicht der unterschiedlichen Dimensionen gerät auch dieses Mal ins Wanken. Das erkennt der frühere Neurochirurg und jetzige Magier Stephen Strange alias Doctor Strange (Benedict Cumberbatch), als er die Teenagerin America Chavez (Xochitl Gomez) mit Hilfe seines alten Weggefährten Wong (Benedict Wong) vor einem glubschäugigen Monster rettet. Die junge Frau, so stellen die beiden mit Erstaunen fest, kann, wenn sie Angst empfindet, durch Portale von einem Universum in ein anderes springen, ohne genau zu wissen, wie sie ihre besondere Fähigkeit kontrolliert.

Nach der ersten Lagebesprechung erhofft sich Strange Informationen von Wanda Maximoff alias Scarlet Witch (Elizabeth Olsen) – und erlebt sein blaues Wunder. Denn in ihrem Schmerz über vergangene Verluste hat sich die frühere Avengers-Kämpferin dunklen Mächten zugewendet. Sie selbst steckt hinter dem Angriff auf America und will die inzwischen in Kamar-Taj in Sicherheit gebrachte Hüpferin zwischen den Dimensionen für ihre eigenen Zwecke nutzen – was Strange um jeden Preis verhindern muss.

Ein Ritt durch das Multiversum

Wie man angesichts der visuellen Kraft des ersten Doctor-Strange-Soloauftritts aus dem Jahr 2016 erwarten durfte, trumpft auch der zweite Film um den ehemaligen, stets etwas größenwahnsinnigen Topmediziner mit vielen verrückten, psychedelischen Bildeinfällen auf. Erst recht, weil wir uns dieses Mal auf einen Ritt durch das Multiversum begeben. Binnen Sekunden wechselt mitunter die Szenerie. Magische Tore öffnen sich. Und abstrakte Gedankenräume werden betreten. Sam Raimi und sein Team toben sich immer wieder aus und lassen die Welten nur so an uns vorbeirauschen. Eine Dimension, in der New York als von Pflanzen überwucherter Schauplatz daherkommt, rückt allerdings genauer in den Fokus. Dort nämlich suchen Strange und America nach einer Lösung für ihr Problem.

Für Abwechslung sorgt nicht zuletzt die Entscheidung, diverse Horrormotive aufzugreifen. Besessenheit, Monsteranleihen, Dämonenspuk, zahme Splatter-Andeutungen und Zombie-Bezüge – Doctor Strange in the Multiverse of Madness nimmt uns mit auf eine Reise durch das Genre und hebt sich dadurch von anderen Marvel-Arbeiten ab – selbst wenn die Gruseleinlagen am Ende den popcorntauglichen Rahmen nicht zu sprengen vermögen. Raimi muss mit angezogener Handbremse arbeiten, hat aber sichtlich Spaß, dem oft bunten Superheldentreiben eine schauerlich-ungemütliche Note zu verleihen.

Enttäuschte in Doctor Strange noch die blasse Zeichnung des von Mads Mikkelsen gespielten Bösewichts, gehört die Antagonistin im Nachfolger zweifelsohne zu den Stärken des Films. Wanda Maximoff alias Scarlet Witch ist keine blindwütige Zerstörerin, sondern wird von einer tiefsitzenden Trauer angetrieben und erscheint dadurch ambivalent. Den Spagat zwischen skrupellosem Handeln und Verletzlichkeit bekommt Elizabeth Olsen überzeugend hin. Schade ist jedoch, dass Raimi und Drehbuchautor Michael Waldron (Loki) auf der Zielgeraden, wenn es darum geht, ihren Charakterbogen zufriedenstellend abzuschließen, ins Stolpern geraten.

Doctor Strange und Christine Palmer

Wenig überraschend bekommt auch der Titelheld etwas mehr Raum zur Entfaltung. Das Konzept des Multiversums erlaubt es zum einen, Strange auf eine weitere Version seiner selbst treffen zu lassen. Zum anderen scheint es in einer parallelen Welt möglich, die vertane Chance auf eine Beziehung mit seiner Ex-Kollegin Christine Palmer (Rachel McAdams) zu revidieren. Dass seine Gefühle für sie noch immer stark sind, ist schließlich offensichtlich.

Mit America Chavez führt Doctor Strange in the Multiverse of Madness eine neue Figur in den Marvel-Leinwandkosmos ein, die in den Comicvorlagen als lesbisch definiert wird. Im Film kommt dieser Aspekt nicht zur Sprache. Eine Rückblende zeigt lediglich, dass sie zwei Mütter hat, von denen sie auf tragische Weise getrennt wurde. Ärgerlicherweise verharrt America, um deren Fähigkeiten sich immerhin alles dreht, fast die ganze Laufzeit über in der Rolle einer Stichwortgeberin – weshalb sich ihre Entwicklung im letzten Akt reichlich behauptet anfühlt. Großes Potenzial bleibt in Chavez‘ Fall ungenutzt liegen.

Sam Raimis Rückkehr zum Spektakelkino – zwischen 2002 und 2007 erschienen seine Spider-Man-Arbeiten mit Tobey Maguire in der Hauptrolle – ist trotzdem aufregend genug, um das Publikum zwei Stunden lang bei Laune zu halten. Wer tief in der Superheldenmaterie drinsteckt, dürfte sich übrigens über so manchen Gastauftritt freuen. Einige Überraschungen sind definitiv dabei!

>> von Christopher Diekhaus

©Marvel

Geschrieben am 04.05.2022 von Carmine Carpenito