Echter Horror statt Marvel-Grusel mit angezogener Handbremse: Nachdem er den ersten Leinwandauftritt des Comichelden Doctor Strange inszenieren durfte, war Scott Derrickson (Erlöse uns von dem Bösen) eigentlich auch für die Fortsetzung vorgesehen, die – so hieß es anfangs – in für das Marvel Cinematic Universe ungewöhnlich düstere Gefilde vordringen sollte. Kreative Differenzen führten allerdings zu einem Wechsel auf dem Regiestuhl, den dann mit Sam Raimi ein ebenfalls genreerprobter Filmemacher einnahm. Derrickson widmete sich daraufhin einem anderen Projekt: der Adaption der Kurzgeschichte The Black Phone. Eine nicht gerade schlechte Wahl. Gehen in der Erzählung von Stephen Kings Sohn Joe Hill doch Serienkillerspannung und ein übernatürlicher Kniff eine produktive Verbindung ein.
Womit der Film auf jeden Fall zu punkten weiß, deutet sich schon in den ersten Minuten an. Große Sorgfalt lassen die Macher walten, um das Jahr 1978, in dem die Handlung spielt, glaubhaft wiederzuerwecken. Was außerdem nicht zu übersehen ist: Das Gespür des Regisseurs dafür, wie man urplötzlich ein Klima der Bedrohung erzeugt. Kommt der Prolog noch recht beschwingt daher, kippt der Film beim Übergang in die Titelsequenz auf einmal ins Abgründige. In krisseligen Bildern werden wir über eine rätselhafte Entführungsserie informiert, die in der Suburbia im Norden Denvers für Angst und Schrecken sorgt. Ein Unbekannter (Ethan Hawke), den alle Welt nur Der Greifer nennt, hat schon mehrere Kinder verschleppt, über deren Schicksal nichts bekannt ist.
Konfrontiert wird mit dem Horror auch der 13-jährige Finney (Mason Thames), ein schüchterner, in der Schule regelmäßig drangsalierter Junge, dessen einziger Freund in die Fänge des Phantoms gerät. Und nicht nur das. Wenig später steht auch er selbst dem Kidnapper gegenüber, der ihn in seinen schwarzen Van verfrachtet und in ein schalldichtes Kellerverlies sperrt. Dass all jene, die vor ihm hier gefangen gehalten wurden, tot sind, begreift Finney, als unverhofft ein kaputtes Telefon an der Wand klingelt und sich am anderen Ende der Geist eines früheren Opfers meldet, um hilfreiche Tipps zu geben, wie man dem Gefängnis vielleicht entkommen könnte. Zur selben Zeit will Finneys kleine Schwester Gwen (Madeleine McGraw), die in ihren Träumen offenbar schon zuvor Hinweise zu den Taten des Greifers erhalten hat, ihre übersinnliche Gabe nutzen, um den Vermissten aufzuspüren.
The Black Phone entwirft ein Szenario, in dem ein ähnliches Gemeinschaftsgefühl beschworen wird, wie man es aus Stephen Kings Roman Es und dessen Verfilmungen kennt. Nicht nur Finneys schlagkräftiger Kumpel steht ihm bei, wenn es die Bullys wieder einmal auf den scheuen Jugendlichen abgesehen haben. Auch die alles andere als auf den Mund gefallene Gwen springt beherzt für ihren Bruder in die Bresche. Überhaupt ist die Beziehung der Geschwister innig, da zu Hause eine bedrückende Atmosphäre herrscht. Ihr Vater (Jeremy Davies) greift häufig zum Alkohol und neigt zu Gewaltausbrüchen, wird vom Drehbuch jedoch nicht zu einem eindimensionalen Säufer und Schläger degradiert. Hinter der Fassade dieses mit der Erziehung seiner Kinder spürbar überforderten Mannes, den schon das Knallen eines Brotkorbs fast aus der Haut fahren lässt, blitzen tiefe Verunsicherung und großer Schmerz auf. Schließlich hat er seine Ehefrau, deren Träume offenbar ebenfalls hellseherische Formen annahmen, auf tragische Weise verloren.
Der Gedanke der Solidarität setzt sich in den Anrufen der anderen entführten Jungen fort, die ihren Peiniger endlich stürzen sehen wollen und daher Finney mit Ratschlägen unterstützen. Wenigstens ihm soll ein blutiges Schicksal erspart bleiben. Aus der Gefangenschaft des Protagonisten und seinen Ausbruchsversuchen schlägt der Film einiges an nervenaufreibendem Kapital, wobei auch die präzise Kameraarbeit von Brett Jutkiewicz zum Hochtreiben des Adrenalinpegels beiträgt. Besonders in Erinnerung bleiben der Moment, wo der 13-Jährige ein Kellerfenster zu erreichen versucht, und die Szene, in der er es ausnutzen will, dass der Greifer kurz weggenickt ist.
Einfluss auf die beklemmende Grundstimmung, der nur selten echte jump scares hinzugefügt werden, nimmt auch Ethan Hawke, mit dem Derrickson schon in seinem Horrorbeitrag Sinister zusammengearbeitet hat. Der US-Darsteller gibt den Entführer und Serienkiller als verschlagenen, leicht affektierten Sadisten und verleiht ihm, obwohl wir über die Figur nichts Handfestes erfahren, eine bedrohliche Präsenz. Eine Rolle spielen dabei nicht zuletzt die je nach Gemütslage wechselnden Masken, die der Täter trägt und an deren Entwicklung der legendäre Make-up-Artist Tom Savini beteiligt war.
Die Adaption von Joe Hills Kurzgeschichte trifft viele richtige Entscheidungen. Für ein echtes Genrehighlight langt es allerdings nicht, weil sich dann doch ein paar erzählerische Nachlässigkeiten einschleichen. Der Strang um Gwen, die zweite paranormale Ebene des Films, hängt gelegentlich in der Luft und wirkt am Ende, wenn er auf eine Sequenz hinausläuft, die Das Schweigen der Lämmer zu referenzieren scheint, ein bisschen wie ein Gimmick. Eher fahrig eingebunden ist zudem Max (James Ransone), der Bruder des Serienkillers, der sich offenkundig als Hobbydetektiv versucht. Vor allem im letzten Drittel wird man das Gefühl nicht los, dass ein paar Szenen mit ihm und über ihn dem Schnitt zu Opfer gefallen sind.
So selten The Black Phone aufdringliche Geisterbahneffekte benutzt, so regelmäßig greift der Horrorthriller auf den Holzhammer zurück, wenn es darum geht, Finneys Entwicklung vom zurückhaltenden Mobbingopfer zum wild entschlossenen Überlebenskämpfer zu betonen. Seine ungewöhnlich drastische Coming-of-Age-Erfahrung hätte man sicher nicht derart deutlich ausbuchstabieren müssen, wie es an manchen Stellen geschieht. Um jedoch keinen falschen Eindruck zu erwecken: Die genannten Schwächen schmälern etwas den Gesamteindruck, sind aber nicht so gravierend, dass man die Lust an diesem gruseligen Vorstadtthriller verlieren würde.
>> von Christopher Diekhaus