Moviebase Chained
Markus Schleinzers „Michael“, der Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „A Moi Seule“ und nun „Chained“ von Jennifer Lynch: Diese Filme greifen furchtlos das mit dem Verstand kaum zu erfassende Thema der Kindesentführung und des Missbrauchs auf, das mit einigen ganz besonders grausigen, realen Fällen in den letzten Jahren wieder an neuer Brisanz gewonnen hat. Nun ist es zweifellos wichtig, auch diese düstersten menschlichen Abgründe künstlerisch zu ergründen – dass dabei eine gehörige Portion Fingerspitzengefühl vonnöten ist, dürfte aber ebenso klar sein. Gleichzeitig muss auch eine dem Inhalt entsprechend extreme Form gefunden werden. Lynch, das muss man so sagen, scheitert mit ihrem Versuch, das Thema adäquat zu behandeln – nur in wenigen Momenten erreicht ihr Film die erforderliche Intensität und Feinfühligkeit.
„Chained“ versprüht zu jeder Sekunde das Gefühl einer Auftragsarbeit, lässt deutlich erkennen, wo die Ideen des Drehbuchs und die Impulse der Regisseurin nicht kompatibel sind. Das resultiert in einer Überlagerung verschiedener Stimmungen und Erzählkomponenten: Nicht nur will der Film dem fürchterlichen Schicksal des entführten Jungen „Rabbit“ folgen, nein, er versucht sich gleichzeitig auch noch im Serienkiller-Genre. Der Entführer (Vincent D'Onofrio) des Jungen ist nämlich ein perverser Frauenmörder, der sich den kleinen 10-jährigen Jungen in seiner Wohnung „hält“, damit er ihm beim Beseitigen der blutigen Überreste seiner Opfer behilflich ist – und weil er ihn an sein eigenes Kindheitstrauma erinnert. Der Killer bricht also den Willen des Jungen, richtet ihn zum bedingungslosen Gehorsam ab.
Auf dem Papier klingt die Story von „Chained“ zweifellos unendlich bedrückend, verstörend und grausam – so unerträglich, dass es inszenatorisches Talent erster Güteklasse erfordern würde, um darauf einen Film aufzubauen, der sehenswert wäre. Dass Jennifer Lynch zwar mit durchaus sympathischer Verve und Ambition, aber meistens auch mit recht grober Hand zu Werke geht, wissen wir seit ihrem Debüt „Boxing Helena“. In „Chained“ wird es ihr endgültig zum Verhängnis. Zwar entgeht sie gerade eben noch dem Vorwurf, das Geschehen auf der Leinwand als voyeuristisches Spektakel abzufeiern, dafür aber ist ihr Versuch eines psychologischen Profils des Täters derart misslungen, dass ihr Film immer wieder in unfreiwillige Komik verfällt – zweifellos mit das Schlimmste, was bei diesem Thema passieren kann.
Dazu trägt vor allem auch D'Onofrio bei, den man zwar für seinen Mut beglückwünschen muss, oftmals nur mit ausgebeulter Unterhose bekleidet den perversen Vergewaltiger und Mörder zu mimen, an der Komplexität dieser Rolle aber scheitert er. Die ganze Verrücktheit seiner Figur versucht er durch ein absurdes Lispeln, kombiniert mit einem schwer zu erkennendem Akzent, zu kanalisieren – und wird damit trotz aller Gewalttätigkeit leider zur Witzfigur. Besser machen ihre Sache die beiden Jungschauspieler (Eamon Farren, Evan Bird), die sich die Rolle des „Rabbits“ teilen, besonders Farren, Robert Pattinson wie aus dem Gesicht geschnitten, überzeugt durchgehend.
Tatsächlich sind es Bird und Farren, die dem Film seine wenigen tatsächlich bedrohlichen Momente bescheren: Als der Killer, der seine Opfer mit dem Taxi aufliest, ganz zu Anfang „Rabbits“ schreiende Mutter in sein Haus zerrt und der Junge mit weit aufgerissenen Augen im Taxi verbleibt, wird deutlich, was für ein emotionaler Dampfhammer dieser Film hätte werden können. So aber bleiben vor allem die gründlich misslungenen Momente in Erinnerung, allen voran das komplett absurde, wie angetackert wirkende Ende. „Chained“ ist ein unbeholfener, ungeschickter Film, dessen Regisseurin ihrem selbstgewählten Thema stellenweise deutlich hilflos gegenübersteht. So blickt man ihrem nächsten Film, der sich mit der Jagd auf einen Pädophilen-Ring erneut ein schwer verdauliches Thema vorgenommen hat, mit gemischten Gefühlen entgegen.
>> verfasst von Tim Lindemann