Moviebase Inland Empire - Eine Frau in Schwierigkeiten
Ein Ausbruch aus der konformen Masse, welche von trügerischen und scheinheiligen Oberflächlichkeiten geprägt, zu einem unattraktiven Blender verkommen ist, das ist INLAND EMPIRE. Lynch, der es mit seinem sensationellem Debüt „Eraserhead“ selbst geneigtem Publikum schon schwer machte, hielt sich noch nie an Rahmenbedingungen und Konvention, die es dem Konsumenten einfach machen und ihm Vertrautes auf dem Silbertablett präsentieren. Lynch sucht einen Ausweg aus dieser einheitlichen Tristesse, findet diesen dann in einer aufopferungs- und hingebungsvollen Arbeit des Filmens und bietet schließlich einem gewissen suchenden Publikum den filmgewordenen Ausweg, den Ausbruch aus dem Mainstream. Doch mit seinem jüngsten Werk werden die bisherigen Pfeiler seines Schaffens neu angeordnet und lassen den sich stetig weiter entwickelnden Raum des Lynch-Universums in neue Dimensionen ausweiten.
Eine Expansion bedeutet dies im Falle INLAND EMPIRE aber nicht bezüglich des Bombastes, was der Kenner auch nicht erwartet hätte, sondern eine enorme Erweiterung der filmischen Dimension, die in dieser emotionalen, realen Art und Weise schon lange nicht mehr, wenn überhaupt schon einmal in solch einer massiven Dichte mit einer Kamera festgehalten wurde. Maßgeblich daran beteiligt sind sowohl die ungewöhnliche Art der Inszenierung als auch die Umsetzung der komplexen Geschichte um Laura Dern, die mittlerweile zum dritten Mal (Blue Velvet, Wild At Heart) unter der Regie David Lynchs spielt.
Die Schauspielerin Nikki Grace (Laura Dern) wittert die große Chance auf ein Comeback, als man ihr die Hauptrolle zu dem neuen Kinofilm „On High In Blue Tomorrows“ des renommierten Regisseurs Kingsley Stewart (Jeremy Irons) anbietet. Die zweite Hauptrolle in dem Liebesdrama über eine verhängnisvolle Affäre soll mit dem Darsteller Devon Berk (Justin Theroux) besetzt werden. Kurz nach Drehbeginn findet Nikki heraus, dass der Film früher schon einmal gedreht wurde, aber wegen des Mordes an den beiden Hauptdarstellern nie vollendet werden konnte. Doch auch diese Dreharbeiten scheinen unter keinem guten Stern zu stehen, denn Nikki erhält eine Warnung, dass es auch diesmal zu einem Todesfall kommen wird. Von nun an verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion und Nikki beginnt an ihrer eigenen Identität zu zweifeln und weiß nicht mehr genau, ob sie sich in der Wirklichkeit oder noch in der Filmhandlung befindet…
Ungewöhnlich nach dem Patchwork-Prinzip inszeniert, ließ Lynch den Darstellern kein Skript zukommen, nein, es existierte nicht einmal ein geschriebenes Drehbuch, sondern er gab ihnen jeweils vor dem Dreh einer Szene den zugehörigen Text und die entsprechenden Anweisungen. Demzufolge wussten nicht einmal die Schauspieler selbst, was sie zu tun hatten, was der Film eigentlich darstellen soll und wurden allesamt erst bei dessen Erstsichtung mit dem fertigen Ergebnis, den zusammengefügten Szenen, konfrontiert. Ein großes Geheimniss dessen Lösung sich selbst Lynch nicht sicher ist.
Inland Empire: A Woman In Trouble – so der Titel des Films, der die Situation Nikki Grace treffend beschreibt. Eine Frau in Schwierigkeiten, eine Frau, die mehr und mehr in einen Abgrund zwischen Realität und Fiktion gezogen wird. Konfrontiert mit allerlei abstrusen und obskuren Begegnungen, verliert die Schauspielerin zunehmend die Kontrolle über ihr Dasein und sieht sich nach einiger Zeit in einem Zustand gefangen, der in seinem temporalen Charakter lediglich von dem Einfluss verschiedenster in ihrer Drastik variierenden Emotionen gelenkt wird. Man folgt diesem gefühlgelenkten Konstrukt ebenso instinktiv wie es Laura Dern im Film tut, es ist ein aktives Treiben, welches sich gemächlich entwickeln oder jederzeit blitzartig wenden kann. Eindeutig Lynchs Handschrift tragend entladen sich narrative Konstellationen in eruptiven Akten oder schweben schwer und langsam wie Nebelschwaden durch dunkle Gassen. Inland Empire wird zum Portal, das Realität und Fiktion, Schauspiel und Leben, wechseln bzw. vermischen lässt, das Medium ist Nikki Grace, das Opfer dieser seltsamen Vorkommnisse.
Wahrlich höchst komplex schuf Lynch mit diesem Film ein anspruchsvolles wenn auch geniales narratives Konstrukt, das all seine Geschichten, kleinen Geheimnisse und Details nach und nach präsentiert und in dem sogartigen Aufbau, welcher immer tiefer in diese Welt zieht, ähnlich wie eine russische Matroschka funktioniert – Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte et cetera. Ein kontinuierliches Auf- bzw. Entdecken durchzieht den Film und fordert über die Spiellänge von fast drei Stunden einiges an Aufmerksamkeit und Konzentration, um nicht schon zu Beginn den Durchblick zu verlieren. Man könnte INLAND EMPIRE als komplexe, dicht in sich verschachtelte cineastische Hypotaxe bezeichnen, welche minuziös unter größter Vorsicht geplant und gefilmt wurde.
Die Kamera setzt hierbei große Akzente, da der komplette Film mit einer DV-Kamera gedreht wurde, deswegen eine sehr lebensnahe und authentische Atmosphäre kreiert. Teilweise ungewöhnlich lebhaft lässt Lynch dem Film eine einzigartige Stimmungslage zukommen, die natürlich dementsprechend durch sein Talent in Kameraführung und -einstellung ergänzt wird. Diese Inszenierung mittels einer handelsüblichen DV-Kamera erzeugt unglaublich intensiv wirkende Bilder, Bilder, die so erschreckend bedrohlich sind und andere, welche nahezu real wirken. Close-Ups und extreme Nahaufnahmen versetzt mit ungewöhnlichen Winkeln, wie der öfters verwendeten Froschperspektive schaffen auf der optischen Ebene, ein ebenso surrealen Eindruck, wie die Narrative selbst. Unwiderruflich bindet dies den Betrachter an den Film, der nun genauso wie Laura Dern in ihm selber die Grenzen zwischen Schauspiel und Realität schwinden und vermischen lässt. Was ist Fiktion, was Realität? Zu real, um gestellt, gespielt zu sein – zu abstrakt und surreal, um Wirklichkeit zu sein! Lynch spielt mit diesen Metaebenen und lässt diese immer wieder reflektieren, ja, er jongliert förmlich mit ihnen, will aber seinen Film damit als optisch-akustisches Werk erlebt wissen anstatt ins Kleinste dechiffriert. Die stets perfekt ausgeleuchteten Schauplätze profitieren in ihrer unheimlichen Traumnatur maßgeblich durch das grobkörnige DV-Bild, welches Ursprung und Zenith dieses wunderschönen, doch gleichermaßen psychotischen Trips vereint.
Laura Dern trägt den Film auf ihren Schultern über die gesamten drei Stunden mit Bravour und liefert eine schauspielerische Glanzleistung. Sie spielt sich ihre Seele aus dem Leib und egal ob sie weint, schreit, flucht, lacht, liebt oder fürchtet, ist ihre Darbietung derart aufrichtig und authentisch, dass man streckenweise vergisst, bloß einen Film zu sehen. Fiktive und reale Emotion lässt eine fixe Zuordnung kaum möglich werden, weshalb dem geneigten Betrachter eine starke Involvierung in das Geschehen in INLAND EMPIRE garantiert ist. Doch Lynch nutzt dies und kombiniert seine unglaublich kreativen Vorstellungen mit dem genialen Schauspiel Derns – das Ergebnis ist einer der aufwühlendsten Filme in den letzten Jahren. Drastisch und schockierend trifft auf rührend, liebevoll und findet in der stark surrealen Inszenierung zu einer emotionalen Kontemplation, welche in solch artifizieller Perfektion heutzutage absoluten Ausnahmestatus genießt.
INLAND EMPIRE ist ein surrealer Mindfucker und schert sich weder um Konformität noch Konventionen und ist deswegen einer der wunderbarsten Filme, die es zuletzt auf die Leinwand schafften. Radikal drastisch und ohne Rücksicht entfaltet er sich über die fast drei Stunden und bietet kein plattes Medium, das von Interpretationen zerrissen wird, sondern ist ein Film, der durch seine massiv verstörende Drastik, gleichermaßen rührende Liebe, das menschliche Gefühlsleben portraitiert und dieses mit all seinen Ängsten, Hoffnungen und Glücksmomenten zelebriert. INLAND EMPIRE ist das aufrichtigste Werk, das Lynch bis dato geschaffen hat und vereint all sein Können, seine Ideen und Kritik in sich. INLAND EMPIRE ist Lynch.
>> geschrieben von Benjamin Johann