Moviebase Chernobyl Diaries, The
Spätestens seit dem japanischen Kult-Klassiker „Godzilla“ sind die verheerenden Auswirkungen atomarer Energie ein etabliertes Plotelement im Horror- und Science-Fiction-Film. Und warum auch nicht? Bilder, wie die aus Fukushima oder eben Tschernobyl übertreffen an Grauen und Endgültigkeit so gut wie alle anderen Ängste unserer Zivilisation, sie fiktiv zu verarbeiten, liegt daher nahe. Dennoch stellt sich auch die Frage nach dem „Wie“: Atomkraft als abstraktes Element der Vernichtung einzusetzen, mag als Genre-Filmemacher völlig legitim sein, sich allerdings an historischen Begebenheiten zu orientieren, verlangt Fingerspitzengefühl. Nicht nur daran mangelt es „Chernobyl Diaries“, einem insgesamt sehr unentschlossenen Horrorfilm, der versucht auf der verbrannten Erde Tschernobyls seine Charaktere mit ihren Urängsten zu konfrontieren.
Die Grundidee klingt zunächst stimmig: Ein dubioser russischer Reiseunternehmer bietet geführte Touren durch das Dorf Pripyat an, das nach dem Super GAU in Tschernobyl wie in einen schrecklichen Märchenschlaf gefallen ist – überall finden sich Spuren der ehemaligen Bewohner, die (zumindest teilweise...) abrupt flüchteten, als die Katastrophe ausbrach. Regisseur Bradley Parker und seinem Team gelingt es, diese im wahrsten Wortsinn unheimliche Stimmung zu transportieren, vor allem durch die überzeugende Ausstattung und Inszenierung der Geisterstadt. Hier sieht man ein verrostetes Riesenrad, dort liegt eine verfaulende Spielzeugpuppe auf dem rissigen Asphalt. Neue Bilder sind das nicht unbedingt, die Morbidität des Zerfallenen, vormals Schönen, hat das Horrorgenre schon vor Jahrzehnten erkannt. Nichtsdestotrotz verfehlen sie auch hier ihre atmosphärische Wirkung nicht.
Vermögen der narrative Ausgangspunkt und seine visuelle Umsetzung noch durchaus zu erfreuen, zeigt sich in deren Weiterentwicklung schon bald, wie ungelenk „Chernobly Diaries“ konzipiert ist. Visuell bemüht der Film einen merkwürdigen, quasi-dokumentarischen Stil, der an „Found Footage“-Horror wie „Blair Witch Project“ erinnert. Im Gegensatz zu diesem oder anderen Vorbildern bemüht sich „Chernobyl Diaries“ aber nicht einmal annähernd darum, den logischen Beschränkungen dieses Subgenres zu folgen: Welcher Protagonist jetzt gerade die wackelige Kamera eigentlich halten soll, bleibt meist beispielsweise im Dunkeln. Eben hier setzt auch der zweite und größte Schwachpunkt des von „Paranormal Activity“-Schöpfer Oren Peli produzierten Films an: Nicht für einen Moment vermag es das verkorkste Drehbuch, uns für eine der schrecklichen Hauptfiguren zu interessieren. Der Film bemüht nicht nur die ohnehin ausgelutschte Szenerie einer Gruppe amerikanischer Studenten auf bierseligem „Eurotrip“, der böse endet, sondern übertrifft selbst andere Filme dieser Kategorie noch in der xenophoben Darstellung der (ost-)europäischen Nebenfiguren. Der „alte Kontinent“ dient einmal mehr als Projektionsfläche amerikanischer Ängste vor Chaos und Dreck und scheint, abseits von Eiffelturm und Kolosseum, moralisch ebenso zersetzend zu wirken wie, körperlich, die Strahlung aus dem Kraftwerk.
Wenn dann die „Action“ beginnt und die verwirrt umherirrenden Reisenden unweigerlich von bösartigen Mutanten angegriffen werden, verliert Parker völlig die inszenatorischen Fäden: Einerseits kommt „Chernobyl Diaries“ für einen zumindest thematisch mit „The Hills Have Eyes“ verwandten Film viel zu blutarm daher, zweitens sind die potentiellen Schockmomente derart chaotisch geschnitten und gefilmt, das auch Spannung nie aufzukommen droht. Dazwischen leistet sich der Film zweifelhafte Geschmacklosigkeiten (ein knutschendes Pärchen lässt sich vor dem zerstörten Reaktor fotografieren) nur um am Ende jegliche innere Stringenz aufzugeben und den Zuschauer ratlos zurückzulassen. So wie der Film sich nicht zwischen „Mockumentary“ und Spielfilm entscheiden kann, so bleibt er offensichtlich auch ständig darüber unschlüssig, wie ernst er sein eigenes Thema nehmen soll und darf.
„Chernobyl Diaries“ ist also in vielerlei Hinsicht ein frustrierender Film, ganz besonders darum, weil mit dem vielversprechenden Setting und Grundplot durchaus mehr möglich gewesen wäre, als nur ein weiteres Mal einseitig und klischeehaft junge Amerikaner mit ihrem dunklen Spiegelbild Europa zu konfrontieren. Immerhin: In einer absurden aber durchaus vergnüglichen Szene lässt Parker als Hommage an David Cronenbergs „eXistenZ“ ein paar mutierte Fische aus dem Wasser kriechen – womit sich auch der Kreis zum Ursprung, nämlich zu „Godzilla“ schließt.
>> verfasst von Tim Lindemann